Im Namen des Volkes – Geschichten aus der Stadt mit K

    Geschichten aus der Stadt mit K

    Schräge Geschichten aus Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung

    In seiner Kolumne „Im Namen des Volkes“ teilt Ralf Sikorski mit unseren Leserinnen und Lesern Auszüge aus der Neuauflage seines gleichnamigen Buches

    Ich heiße Ralf Sikorski und Sie herzlich willkommen.


    Karneval in Köln ist wie Kommunismus: alles säuft, keiner arbeitet
    An Karneval ist – zumindest in einigen Gegenden unseres Landes – alles anders. Da begab es sich, dass sich an Weiberfastnacht in Köln ein Verkehrsunfall ereignete, ein Kleinbus mit einer zehnköpfigen Abordnung der Karnevalsgesellschaft „Treuer Husar“ streifte bei einem Spurwechsel ein anderes Auto. Da man sich in der Schuldfrage nicht einig war, klagte die Karnevalgesellschaft vor Gericht. Als Zeugen waren u. a. alle Husaren geladen, die am Unfalltag im Bus gesessen hatten. Sie sagten in erstaunlicher Übereinstimmung gegen die Fahrerin des Pkws aus, während zwei unbeteiligte Fußgänger einen ganz anderen Hergang des Unfalls schilderten.

    Das Amtsgericht entschied zugunsten der Pkw-Fahrerin und führte dazu aus: „Obwohl die absolute Mehrheit der vom Gericht geladenen Zeugen aus Treuen Husaren bestand, kann die Klägerin den Prozess nicht gewinnen. Die Treuen Husaren haben zwar in historisch bewährter Einmütigkeit der Beklagten die Schuld an dem Verkehrsunfall in die Schuhe geschoben, obwohl diese ein Mädchen war und damit schon nach Cöllnischem Recht an Wieverfastelovend, dem vom Gastwirtsgewerbe tüchtig geförderten Vorkarneval, die Vorhand und das Recht hatte.
    Der mit viel Humor gesegnete Richter beim Landgericht wies die Berufung zurück (Urteil vom 22.1.1986, 19 S 138/85), und zwar mit folgender wirklich beeindruckender Begründung: „Die Aussagen der beiden unbeteiligten Zeugen können auf den übereinstimmenden Kern zurückgeführt werden, daß der Wagen der Beklagten gestanden hatte und der Bus der Klägerin dagegen gefahren ist. Diese Übereinstimmung entspricht der alten Volksweisheit: „Durch zweier Zeugen Mund wird allerwärts die Wahrheit kund“, die auch der gelernte Jurist Goethe seinem Mephistopheles Frau Marthe Schwerdtlein gegenüber in den Mund legte (vgl. Goethe, Faust I, Verse 3013, 3014). Daraus lässt sich durch Umkehrschluss ableiten, dass den Aussagen von mehr als zwei Zeugen nicht notwendigerweise ein gleicher oder gar größerer Wahrheitsgehalt zukommt.
    So liegt auch hier die Annahme nah: ‚Viele gaben falsch Zeugnis, aber ihr Zeugnis stimmte nicht überein (Markus, 14, 56)‘, wobei sich die Kammer vor der Annahme hütet, die übrigen Zeugen hätten bewusst falsch ausgesagt, denn es heißt in 2. Mose 20, 16: ‚Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten‘, und außer einander dürfte den Zeugen die Beklagte örtlich am nächsten gewesen sein.
    Die Tatsache, dass die Zeugen kein bewusst falsches Zeugnis geredet haben, schließt aber die Möglichkeit nicht aus, dass sie als Insassen des Busses das Geschehen unmittelbar vor dem Zusammenstoß nicht genau genug beobachtet oder insgesamt eine etwas getrübte Erinnerung an das Unfallgeschehen hatten. Für diese Ungenauigkeiten der Wahrnehmung des Unfallhergangs und der Wiedergabefähigkeit sprechen hingegen manche Argumente, die zu leugnen mit dem Charakter einer fröhlichen Busfahrt zu Wieverfastelovend nicht recht in Einklang zu bringen wären. Bei derlei Gelegenheiten nämlich pflegt man – das ist einer der Zwecke der Fahrt – Alkohol zu sich zu nehmen und sich munter zu unterhalten und zu verlustieren. Die Aufmerksamkeit ist dann zwangsläufig nicht mehr so recht auf das Verkehrsgeschehen gerichtet, das vorn und seitlich eher wie eine Art Panorama abrollt, ohne tiefer ins Bewusstsein zu dringen. Angesichts der Widersprüchlichkeiten der Aussagen der Businsassen liegt die Vermutung nahe, dass keiner von ihnen das Unfallgeschehen richtig beobachtet und im Termin wiedergeben hatte, dass es sich also um die Kategorie von Zeugen handelte, die man etwas vereinfacht, aber dennoch nicht ganz unzutreffend als Knallzeugen bezeichnet.

    Trink Sester, mein Bester
    Die Kölner Privatbrauerei Sester, heute noch aktiv, aber untergegangen in einer großen Brauereigruppe, unterhielt in den 1980ern ein Pferdegespann mit zwei Pferden, das zu Werbezwecken auf bestimmten Routen durch die Stadt Köln fuhr. Nun aber begab es sich, dass eines der Pferde, als das Gespann führerlos vor der „Postschänke“ stand, unruhig wurde und dabei ausgekeilt hatte. Unglücklicherweise stand im Einzugsbereich dieses Huftritts ein Pkw, der dabei ob der Härte des Tritts beschädigt wurde. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme verurteilte der zuständige Richter, ein echtes Kölner Original, die Brauerei als Halterin des Pferdefuhrwerks zu einem Schadenersatz von rund 2.000 DM. So weit, so bedeutungslos. Der Urteilsspruch des Amtsgerichts Köln (Urteil vom 12.10.1984, 226 C 356/84) selbst ist es dabei nicht, der Geschichte geschrieben hat, sondern die Urteilsbegründung.
    Hier die (nur ein wenig) gekürzten Ausführungen im kaum zu glaubenden Originalton: „Das Pferdefuhrwerk selbst wird trotz einiger PS nicht durch Maschinenkraft bewegt, so dass ihm rechtlich die Anerkennung als vollwertiges Kraftfahrzeug fehlt. Die Beklagte haftet also nicht schon als Halterin des ‚Fahrzeugs‘ selbst. Die Beklagte haftet als Halterin des Pferdeteils des Fuhrwerks.
    Das Pferd ist rechtlich betrachtet ein Haustier, auch wenn es am Straßenverkehr teilnimmt und nicht zu Hause wohnt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat eines der beiden Haustiere mit einem der 8 Hufe das Auto des Klägers getreten. Damit hat sich die von dem Gesetz verlangte typische Tiergefahr durch unberechenbares Verhalten verwirklicht. Unberechenbar ist alles, auf das man sich leider nicht verlassen kann.

    Den feinen Humor des Richters sieht man auch an einer Fundstellenangabe dieser Aussage der Urteilsbegründung: „vgl. dazu das sog. Holzweg-Urteil des erkennenden Gerichts vom 4.12.1981“ mit der Fundstellenangabe „Brigitte Nr. 18 vom 29.4.1982 sowie Expreß vom 7.4.1982“. Selbstverständlich hat es ein solches Urteil nie gegeben.
    Deshalb bedurfte es auch keiner Aufklärung, ob das Pferd gegen das Auto getreten hat, weil es als Angehöriger einer Minderheit im Straßenverkehr eine Aversion gegen Blech entwickelt hat oder weil es in seiner Einsamkeit sein Herz mit schönem Klang erfreuen wollte oder ob es seinen Huf als Warnblinklicht betätigt hat. Der glaubwürdige Zeuge Z., dem besondere Kölsche Sachkunde zugesprochen werden kann, erkannte nicht nur den Kutscher, sondern sogar auch die Pferde wieder, wobei allerdings die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen ist, dass ihm die Firmenaufschrift auf dem Fuhrwerk bei der einwandfreien Identifizierung geholfen hat. Der Zeuge sagte aus, dass das eine Pferd „immer wieder gegen die Stoßstange des Fahrzeugs trat“, bis der Kutscher seinerseits zwar nicht gegen den Wagen, wohl aber vorzeitig in Erscheinung trat. Offenbar hatte der Kutscher den alten Rat befolgt: „Wer weiter will als sein Pferd, der sitze ab und gehe zu Fuß.“ Es konnte offenbleiben, ob der Kutscher der Beklagten in der Postschänke tatsächlich wie angegeben „eine Tasse Kaffee“ getrunken hat, um sich aufzuwärmen und ob er dadurch arbeitsrechtlich gegen seinen Auftrag verstoßen hat, in jeder Lage für die Beklagte Reklame zu machen und den Umsatz zu fördern.
    Die Werbe-Slogans der Beklagten lauten zwar nicht „Malzbier ist besser als Schäksbier“ oder „Zwischen Leber und Milz paßt immer noch ein Pils.“ Die von der Beklagten vertriebene Getränkeart (Anmerkung des Autors: Für nicht ortskundige Leser sei darauf hingewiesen, dass sich die hier in Frage stehende Getränkeart – ein obergärig gebrautes Bier – aus dem Namen der Stadt Köln ableiten lässt) vermag aber, wie das Gericht aufgrund eigener Sachkunde feststellen konnte, ohne daß die Hinzuziehung eines Sachverständigen für Alkoholfragen notwendig gewesen wäre, durchaus auch anstelle von Kaffee eine gewisse wärmende Wirkung zu entfalten. Die alte Verkehrsregel „Wenn die Kutscher besoffen sind, laufen die Pferde am besten“, kann dabei rechtlich aber heute nicht mehr uneingeschränkt Gültigkeit beanspruchen. Wenn man dem Gebräu der eigenen Brauerei diensteifrig zugesprochen hat, könnte es daher möglicherweise geraten sein nach dem Motto „Das Pferd ist klüger als sein Reiter“, den Zügel völlig schleifen zu lassen. Eine allgemein verbindliche Bier-Kutsch-Regel zur Trunkenheit läßt sich jedoch nicht aufstellen.
    Auch wenn man nicht der heute weit verbreiteten Rechtsansicht huldigt, Tiere seien die besseren Menschen, wäre es von dem Kutscher natürlich zu verlangen gewesen, die Pferde mit in die Postschänke hineinzunehmen, um ausreichend auf sie einwirken zu können. Da der vorliegende Fall beweist, dass die Pferde trotz ihrer äußerlich robusten Statur innerlich nicht einer gewissen Sanftmut im Verkehr entbehren. Sie sind nämlich mit dem Auto der Klägerin einigermaßen zartfüßig umgegangen. Das Ergebnis ihrer Beinarbeit ist jedenfalls nach den Erfahrungen des Gerichts relativ preisgünstig ausgefallen. Rechtlich bestehen daher keine Bedenken dagegen, dass die Pferde der Beklagten weiterhin ihre Touren durch die Kölner Stadtteile ziehen. Wenn sie dabei ab und zu ein Auto eintreten, so erfreuen sie sich vielleicht gerade dadurch der Sympathie bestimmter Wählerschichten. Für die übrige Bevölkerung wird solches Verhalten neben einer alsbaldigen Zahlung des Schadens insbesondere dadurch aufgewogen, dass die Pferde sehr umweltfreundlich sind.
    Die Beklagte möge also die Blötsche (
    Anmerkung des Autors: Beule, Eindellung) am Fahrzeug der Klägerin bald möglichst bezahlen. Weil die Post heute ja bekanntlich nicht mehr so schnell ist wie früher, hätte es durchaus seine Vorzüge, wenn das Geld mit Hilfe der Bierkutsche der Beklagten zur Klägerin transportiert würde. Ob auf dem Fuhrwerk dabei diesmal ausnahmsweise ein volles Fässchen mitgeführt wird, sozusagen als Schmerzensgeld für die Beulen, bleibt allerdings dem freien Ermessen der Beklagten überlassen. Mit einer entsprechenden Verurteilung würde das Gericht seine Befugnisse überschreiten.


    Zusammenfassend ließe sich sagen:
    Es war ein Mond nach Sylvester,
    da stapften die Pferde vom Sester
    verwirrt durch des Kutschers Menkenke
    im Süden von Schänke zu Schänke.
    Der trank nämlich Kaffee statt Sester,
    Der Regen ward zwischendurch fester,
    die Pferdehaut folglich durchnäßter,
    weshalb dann ein Pferd mit den Pfoten
    ein Auto, das dastand getroten.
    Wer ruft da: Tritt fester, mein Bester!?


    Der Richter setzte sich im Rahmen seiner Urteilsbegründung auch noch damit auseinander, dass die Gleichberechtigung der Tiere untereinander in der juristischen Fachliteratur noch nicht hinreichend Berücksichtigung gefunden habe. Insbesondere das Rindvieh würde von Autoren wie Heinz Erhardt oder Eugen Roth dabei immer wieder bevorzugt. Und er ließ am Ende des Urteils den üblichen Hinweis auf Kosten- und Nebenentscheidungen folgen, natürlich auch auf die ihm eigene Art: „Um das Urteil auch formaljuristisch abzurunden, sei darauf hingewiesen, daß die Nebenentscheidungen auf den § 291 BGB, §§ 91 und 709 ZPO beruhen (falls dies noch jemand ernsthaft interessiert).

    Ich freue mich, in den nächsten Wochen weitere Anekdoten mit Ihnen teilen zu können. Sollte dieses Urteil aus Köln Ihr Interesse an Tieren in der Literatur geweckt haben, empfehle ich Ihnen „Das große Heinz Erhardt“-Buch und das Gedicht „Die Kuh“.


    Über Ralf Sikorski
    Dipl.-Finanzwirt Ralf Sikorski war viele Jahre Dozent an der Fachhochschule für Finanzen in Nordrhein-Westfalen mit den Schwerpunkten Umsatzsteuer und Abgabenordnung und anschließend Leiter der Betriebsprüfungsstelle in einem Finanzamt. Seine Dozentenrolle nahm er daneben als Unterrichtender in Steuerberaterlehrgängen und Bilanzbuchhalterlehrgängen wahr, heute ist er noch in zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen tätig, u. a. in den sog. Bilanzbuchhalter-Updates. Darüber hinaus hat er sich als Autor unzähliger steuerlicher Lehr- und Praktikerbücher insbesondere zu den o. g. Fachbereichen und Herausgeber eines Kommentars zur Abgabenordnung einen Namen gemacht. Seine Stilblütensammlungen „Meine Frau ist eine außergewöhnliche Belastung“, „Wo bitte kann ich meinen Mann absetzen“, „Ich war Hals über Kopf erleichtert“ und ganz aktuell „Im Namen des Volkes“ sowie das Märchenbuch „Von Steuereyntreibern und anderen Blutsaugern“ runden sein vielfältiges Tätigkeitsbild ab.

    Hinweis:
    Die Illustration stammt von Philipp Heinisch, der seine Anwaltsrobe 1990 an den Nagel hängte und Zeichner, Maler und Karikaturist wurde (www.kunstundjustiz.de).

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